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"Die Strassenkinder von Tres Soles"

Die Literaturdozentin, Pädagogin und Präsidentin von P.E.N. Bolivien, Melita del Carpio, schreibt: „Ich muss zugeben, dass dies eine ungewöhnliche Art ist, erzieherische Erfahrungen in einem Buch zu verarbeiten, ganz anders als man es üblicherweise kennt. Im Normalfall sind solche Bücher mit teilweise spekulativen, pädagogischen und sozialen Theorien überladen. Oft bleibt die menschliche Seite im Hintergrund, wohl aus Angst, dass die Arbeit als unwissenschaftlich eingeschätzt werden könnte. Ich vertrete jedoch die Ansicht, dass die Art und Weise, wie hier Erfahrungen beschrieben werden, äußerst gelungen ist: voller Leben, nachdrücklich und interessant. Es ist durchaus ein wissenschaftliches Vorgehen, Lebensgeschichten zur Analyse und zum Nachdenken zu verwenden.
Die Straßenkinder von Tres Soles ziehen den Leser sofort in ihren Bann. Am liebsten würde man die 288 Seiten ohne Unterbrechung lesen wollen, so kunstvoll, einem Kaleidoskop ähnlich, sind die Geschichten ineinander verwoben. Es geht hier um wahre, erschreckend wahre Geschichten, die die Fiktion bei weitem übertreffen. Durch Lebensgeschichten wird die Geschichte von Tres Soles erzählt, eine auf Erziehung durch Kunst ausgerichtete soziale Einrichtung. Sie wurde erträumt, erkämpft und aufgebaut von Stefan Gurtner, begleitet von Erziehern, Freiwilligen, Psychologen und Spendern. Es gibt jedoch keinen Zweifel daran, dass die Kraft und die Energie der Kinder von Tres Soles immer an erster Stelle standen und stehen. Während die Wohngemeinschaft, der gemeinsame Traum, aufgebaut wird - in vielen Stunden, in endlosen Tagen und Nächten -, ist es immer wieder diese Kraft, diese Energie, die alles vorantreibt –als Teil einer wahren und wirklichen Gemeinschaft, die sich trotz aller Hindernisse, Widersprüche und Entmutigungen ihren Weg sucht. Ihre Erfolge sind eigentlich unvorstellbar, wenn man an den Beginn in jener Armenküche in einem Elendsviertel von La Paz denkt, wo Stefan Gurtner die ersten Kinder und Jugendlichen traf. Und sie waren es, die die Initiative ergriffen:

- Wir haben uns entschlossen wegzugehen, bevor uns das Jugendamt holt, und wir haben beschlossen, dass wir zusammenbleiben möchten, wenn du mit uns kommst.
- So? Und wohin, bitteschön, sollen wir gehen?

- Es spielt keine Rolle wohin -, entgegnete Wilmer.
 - Im Tal unterhalb der Stadt gibt’s einige Höhlen“, sagte Moisés und deutete etwas ungewiss über die Dächer der Stadt.

Die Kinder wählen ihren Weg und Stefan schließt sich ihnen an. Dieses Verhalten beobachtet man immer wieder bei diesem geborenen Erzieher. Ab diesem Moment sehen wir Stefan Gurtner als Leiter und Erzieher handeln, der seine literarischen und akademischen Pläne aufgibt, um alles mit diesen Kindern zu teilen: die Risiken, den Hunger, den ungewissen Erziehungsprozess mit all seinen Widersprüchen, die eigene Diskriminierung um der Arbeit mit diskriminierten Kindern willen. Er ist nicht der Europäer, der ein paar Stunden mit ein paar Straßenkindern in einer Hütte ohne Fensterscheiben und löchrigem Dach verbringt und die übrige Zeit in einem komfortablen Haus verbringt. Nein, es geht darum, immer präsent zu sein, alle Stunden des Tages, ein ganzes Leben lang.
Wie soll man eine vernünftige Arbeit mit Straßenkindern beginnen, die von ihren eigenen Familien, von der Polizei und von der ganzen Gesellschaft aufgegeben worden sind? Wie mit Kindern zusammenleben, die brutal auf die Straße gestoßen wurden, die durch Prügel und sexuellen Missbrauch, durch Konsum von Alkohol und Drogen derart geschädigt sind?
Es sind viele Fragen, die sich Tres Soles stellen muss. Die konkreten Aktionen, die daraus entstehen und die Gewissheit, dass man trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgeben darf, sind die Antworten darauf. (-)
Ich glaube, dass Erziehung, wenn sie es ernst meint, auf Menschen bauen muss, die für ihre Taten geradestehen können und für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen.
Die Prinzipien von Tres Soles widersprechen üblichen Maßnahmen oft frontal, nämlich unliebsame Menschen wegzusperren.  
Tres Soles beweist uns, dass es viel zu tun gibt, bevor man sagen kann, dass man nichts mehr machen kann; dass es für alle Hoffnung und Möglichkeiten gibt, ihr Leben zu verändern. Die bedeutendsten Resultate sind wohl in der künstlerischen Arbeit zu finden, in der die Entwicklung vom ausschließlich therapeutischen Theater bis hin zu einem künstlerischen Niveau reicht, das weit über den rein erzieherischen Wert hinausgeht. Die Theatergruppe von Tres Soles ist eine der meist besprochenen Theatergruppen Boliviens der letzten Jahre. (-)
César Brie, ehemaliger Leiter des bekannten Teatro de los Andes, äußerte sich anlässlich der Aufführung des Kleinen Prinzen sehr positiv über die freie Fassung der Theatergruppe von Tres Soles. Er erklärte, dass ihn das Stück tief  berührt habe. Auch ich kann nichts anderes sagen, als dass mich das Buch und die Lebensgeschichten, die es beschreibt, berühren.  Vielen Dank, Stefan, für dein Engagement, für deinen Respekt gegenüber unseren Kindern, dafür, dass du sie in die Kunst einführst als ein Weg zur Heilung, zur Befreiung und zum Glück. Du wirst dich nie wieder Ausländer nennen dürfen, denn du hast uns adoptiert und wir haben dich adoptiert.“

4. März 2012 - ‚La Patria’, bolivianische Tageszeitung