Eine Rezension von Melita del Carpio, Literaturdozentin, Pädagogin, ehemalige Präsidentin von P.E.N. Bolivien (bis 2014).
Ich dachte beim Lesen an Geschichten wie „Die Möwe Jonathan“ oder „Der kleine Prinz“, scheinbar einfache und erfundene Geschichten, die den Leser überrumpeln mit ihren tiefen und menschlichen Botschaften. Sie hinterlassen in seinem von Vorurteilen geprägten Weltbild so etwas wie einen „Zünder“, der jeder Zeit hochgehen kann.
Auch wenn in den Kinderbüchern und Zeichentrickfilmen die Mäuse als sympathische und pfiffige Kerlchen dargestellt werden, empfinden wir sie im wirklichen Leben als abstoßendes Ungeziefer, das es zu vernichten gilt. Die Schule lehrt uns, sie unter die „Schädlinge“ einzustufen und sie werden von Kindern und Jugendlichen benutzt, um Lehrerinnen, vor allem wenn sie als „Alte“ oder „Hexen“ betrachtet werden, in Angst und Schrecken zu versetzen.
Als ich „Das grüne Weizenkorn“ in den Händen hielt, eine Erzählung von Stefan Gurtner, unserem schweizerisch-bolivianischen oder besser gesagt unserem bolivianisch-schweizerischen Schriftsteller, was er auf Grund seines Einsatzes für die sozial-benachteiligten Kinder unseres Landes eindeutig ist,  dachte ich, wie unglücklich doch die Mäuse sind, die ihr Leben mit den Menschen und den Katzen, den Freunden der Menschen, teilen müssen, wie verstossen und gehasst sie sind, obwohl sie doch keine Raubtiere, sondern eigentlich wehrlos und ängstlich sind.
„Das grüne Weizenkorn“ ist für ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene bestimmt. Es ist die Geschichte des kleinen Mäuserichs Achaku. Achaku ist ein Aymaraname wie der der anderen Landmäuse, die in der Erzählung vorkommen. Achaku, gefangen in einem leeren Mayonnaise-Glas, erzählt seine Geschichte in der ersten Person ebenso wie Stefan, der in der Geschichte als eine der Figuren, gleichzeitig aber auch als Erzähler des Buches, höchstpersönlich vorkommt. Stefans Buch spielt sich auf zwei Ebenen ab: Einerseits in einer fantastischen Mäusewelt von Ritzen, Löchern, Spalten, Kellern, Kisten, Schatten, Reflexen, flinken Sprüngen, schnellen Bewegungen, schlängelnden Schwänzen und flackernden Augen in der Dunkelheit. Es ist eine wirkliche und zugleich fantastische Welt, ohne Zauberer und Erleuchtete, in der uns die Vorstellungskraft mit der Geschwindigkeit von Mäusen in die engen Gänge treibt, wo die Mäuse geboren werden, leben, leiden, fressen, genießen und sterben. Es ist eine Welt, wo das Überleben zur Hauptsache wird.
Andererseits handelt es sich um das Leben der sozial benachteiligten Menschen, das der Straßenkinder, der Abschaum einer Gesellschaft, die ständig noch mehr Gewalt produziert - eine Welt, die der der Mäuse so ähnlich sieht. Eine Gewalt, die sich in der kleinsten Ritze, wo Ungleichheit, abgrundtiefe soziale Gegensätze, Verlassenheit, Korruption und Angst lauern, festsetzt.
Aus diesem Grund ist „Das grüne Weizenkorn“ eine Abenteuergeschichte ohne Happyend. Sie zeichnet ein Bild unserer Widersprüchlichkeiten. Ich dachte beim Lesen an Geschichten wie „Die Möwe Jonathan“ oder „Der kleine Prinz“, scheinbar einfache und erfundene Geschichten, die den Leser überrumpeln mit ihren tiefen und menschlichen Botschaften. Sie hinterlassen in seinem von Vorurteilen geprägten Weltbild so etwas wie einen „Zünder“, der jeder Zeit hochgehen kann. Achaku lernt beide Welten kennen und kommt mit ihnen in Konflikt. Im Grunde sucht er sich selbst, seine Identität und seine Wurzeln. Er ist ein Mäusejunge, der von seinem Vater verlassen und von seiner Mutter auf die Straße geworfen wurde. Der Zerfall und das Auslöschen seiner Familie sind in seinem Mäuseschicksal festgelegt und sein Weg ist die kontinuierliche Entdeckung der Welt, in der er lebt. Auf diesem Weg ziehen die ländliche Umgebung seiner Eltern, die Elendsviertel der Stadt, der Fresspalast, das Steinhaus, das Versteck der Kämpfer des „Grünen Weizenkorns“ und die Welt der Menschen mit ihren mörderischen Katzen vorbei. Es ist ein Weg, der ihm Erkenntnisse eröffnet, die er nie erwartet hätte.
Jede Figur in diesem Buch stellt eine menschliche Kategorie oder ein soziales Symbol dar: die Kämpferin Kh’asa, der weise Apu, der unruhige Qhencha, die mütterliche Graue Schwester, der energische Graue Bruder, der gefürchtete Große Nager, die Frau des Großen Nagers, die großzügig die Bäuche der Armen mit schlechtem Futter füllt (die Konsumgesellschaft?). Die attraktive Puraka, seine Gefährtin, die Katze und die lärmenden vierrädrigen Monster der Menschen.
Es folgt der fürchterliche Krieg zwischen den erdfarbenen Landmäusen und den bleichen Stadtmäusen, der Krieg um das „Grüne Weizenkorn“, der unlösbare Schlüssel, mysteriös und schrecklich, gleichzeitig Gewissen und Rebellion.
Alles wird in Frage gestellt, als der Mäusejunge erkennt, dass es einen mächtigeren Feind gibt als die Stadtmäuse oder der Große Nager. Dass es ein absurder Krieg zwischen Mäusen ist, die nicht merken, dass eine viel größere Gefahr auf sie lauert: die Katze. Genau so verhalten sich Menschen, in Bolivien und in anderen Ländern dieses Planeten.
„Das grüne Weizenkorn“ ist eine geschmeidige Erzählung mit kurzen Sätzen, die springen und hüpfen wie flinke Mäuse. Eine Mäusegeschichte, die die Verlassenheit und Einsamkeit der Kinder fühlen lässt. Eine Geschichte voller Spannung und grauer Abenteuer in Spalten, feuchten Gängen, mysteriösen Kellern und geheimen Löchern, in denen sich die gegenwärtige Welt und die menschliche Seele spiegelt.
Ein wichtiges Buch, das in den letzten Jahren der Grundschule und in den ersten Jahren des Gymnasiums, je nach Alter und Klasse, viele Gedanken, Deutungen und Debatten hervorrufen könnte, was Menschenrechte, Gewalt, Diskriminierung, Frieden, Macht, Identitätssuche und ähnliche Themen betrifft.
Es gibt dem Lehrer die Möglichkeit, kreativ Fragen über die Beziehungen zwischen dem menschlichen Individuum und der Gesellschaft aufzuwerfen. Mehr denn je ist es eine Aufgabe der bolivianischen Lehrer, die Kinder zu einem friedlichen Zusammenleben zu erziehen als Alternative zur Konfrontation der verschiedenen Formen von Rassismus und unüberbrückbaren Gegensätzen.